Übernacht
Erster Eindruck: Momentaufnahmen einer Nacht
Es Silvester in Berlin, und verschiedene Menschen treffen unvermutet aufeinander: Jan und Nele sind zusammen zur Schule gegangen, sehen sich nach Jahren wieder und stellen fest, wie sie sich verändert haben. Audrey kippt versehentlich im Kiosk von Serdar ein Regal um und verpasst ihre Party. Und Ella macht einen Überraschungsbesuch, denn eigentlich wohnt sie für ein paar Monate in New York...
Die Lauscherlounge zeigt sich immer wieder offen für neue Hörspielideen, und so unterscheiden sich ihre Produktionen meist von der großen Masse, stets präsentieren sie etwas Ungewohntes. So auch „Übernacht“, dass sich völlig unaufgeregt mit dem Thema Silvester auseinandersetzt und drei verschiedene Personen durch die Nacht begleitet. Und so viel sei verraten: Die drei haben so überhaupt nichts miteinander zu tun, ihre Geschichten verlaufen parallel. Die Zeitansagen dienen zur Orientierung, in die einzelnen Handlungen findet man sich trotz des übergangslosen Schnitts immer schnell wieder herein. Den Anfang machen Jan und Nele, er mittlerweile gefeierter Boygroupstar, sie bodenständig und sehr in ihrem Leben verankert. Sie sinnieren über alte Zeiten und erzählen aus ihrem Leben – eine Situation, die jeder schon einmal erlebt haben dürfte. Gespickt mit kleinen Rafinessen, aber völlig unspektakulär. Und dann Audrey, die sich mit dem türkischen Ladenbesitzer langsam anfreundet, Vorurteile abbaut und mal einen Ausflug aus ihrem scheinbar festgefahrenen Leben bekommt. Auch hier wird nichts wirklich Besonderes oder Aufregendes erzählt, auch diese Situation scheint wie aus dem Leben gegriffen. Schließlich noch Ella, deren Besuch ganz anders endet als erwartet. Hier passiert noch am meisten, hier werden die stärksten Akzentpunkte gesetzt. Trotzdem: nichts wirklich Weltbewegendes. Und doch kann „Übernacht“ faszinieren, weckt das Interesse des Hörers. Sei es wegen der kurzen und doch sehr präzisen und tiefgründigen Charakterisierung, wegen der völlig unterschiedlichen Personen oder schlicht, weil alles ein wenig verlangsamt wird, mitten aus dem Leben erzählt wird, ohne ins Banale zu rutschen. „Übernacht“ hat nichts mit typischen Hörspielen zu tun, setzt gar einige scheinbaren Grundregeln des Mediums außer Kraft und ist wohl gerade deshalb so überzeugend. Ungewöhnlich, aber ungewöhnlich gut!
Für diese kleine Produktion wurden durchaus namhafte Schauspieler engagiert, die sich hörbar mit ihren Figuren auseinandergesetzt haben. Tom Schilling spricht mit Jan einer der Hauptrollen, erkundet seine Figur ganz genau und lotet mit seiner Stimme und stets klaren Emotionen seine Gefühlslage aus. Sehr gefallen hat mir Julia Hummer als Audrey, die stets etwas rotzig klingt und gerade in der Anfangsszene vor glaubwürdiger Spontanität nur so strotzt. Die dritte Hauptrolle als Ella hat Vera Teltz übernommen, die die Entwicklung ihrer Rolle in einer derart guten Zeit gut ausdrücken kann. Weitere – und ebenfalls sehr glaubwürdige - Sprecher sind Fritzi Haberland, Ismael Deniz und Svantje Wascher.
Mit wenigen Mitteln wurde hier eine sehr gekonnte und warme Atmosphäre geschaffen, die die Stimmung im silvesterlichen Berlin gut einfangen kann. Einige schöne Melodien umrahmen die Geschichte, während die zahlreichen Geräusche die Szenen lebendiger wirken lassen. Als Bonustrack findet sich noch ein Song von Olli Schulz wieder, der wunderbar mit dem Hörspiel harmoniert und es zu einem tollen Abschluss führt.
Ebenso unaufgeregt wie das Hörspiel selbst ist auch dessen Aufmachung. Auf dem Titelbild ist eine Frau zu sehen – jedenfalls ihre Beine in Jeans und Turnschuhen, ebenso eine aufgerissene Asphaltstraße und jede Menge Konfetti. Hübsch ist das Booklet, in dem neben Fotos einiger Mitwirkender auch deren Bezug zum Thema Silvester Platz gefunden hat. Insgesamt ein rundes und sehr ansehnliches Design.
Fazit: Unaufgeregt, aus dem Leben gegriffen und gerade deshalb so faszinierend – die Lauscherlounge hat einmal mehr ein gutes Händchen bewiesen.
VÖ: 25.November 2011
Label: Lauscherlounge
Bestellnummer: 978-3-943046-08-3